Danke für Deine Einlassung, Ulrich! Deine Argumentation ist, wie gewohnt, so kenntnisreich und wohldurchdacht, daß ich schon um ein Haar geneigt war, ihr rückhaltlos zuzustimmen.
Indes finde ich die damit aufgeworfenen oder zumindest berührten Fragen: Was ist ein Meisterwerk, bzw. noch umfassender: Was ist überhaupt ein Kunstwerk, und wer oder was macht es zu einem solchen?, so interessant, daß ich nicht umhin kann, Deinen Ausführungen meine höchst spekulative und subjektive Sichtweise nicht entgegenzustellen, sondern vielmehr als vielleicht ebenfalls mögliche Perspektive beizugesellen. Dazu muß ich allerdings sehr tief in der wuwei'schen Schatztruhe wühlen - und dem Plunder, der sich dort findet, wird, fürchte ich, Dein ungeschmälertes Wohlwollen nicht zuteil werden.
Wenn man Musik unter semiotischen Aspekten betrachtet, dann kann jede (instrumentale) Komposition immer nur auf sich selbst verweisen - das ergibt sich zwangsläufig aus den Unterschieden zwischen den Zeichensystemen der Musik und der Sprache.
Nun, die Musik läßt sich gewiß auch unter semiotischen Aspekten, und dies möglicherweise sogar mit Gewinn, betrachten - aber mir stellt es ehrlich gesagt die Nackenhaare auf, wenn Musik oder Sprache, wie in der modernen Wissenschaft üblich, zu Zeichensystemen degradiert werden. Kann das angehen? Sind sie das denn wirklich? Nur Zeichensysteme (somit ohne eigenes Leben; tote Werkzeuge - dem Menschen zur beliebigen Verfügbarkeit, bis hin zur völligen Vernutzung, anheimgestellt?), keine Universalien, an denen der Einzelmensch (oder auch ein Volk, bzw. eine Sprachgemeinschaft) zwar einen individuellen Anteil hat; aber erwirbt er damit irgendwelche Rechte an der Musik oder der Sprache, oder hat er sie gar erschaffen, um sie dann nach Gutdünken zu nutzen, so wie man nach Belieben in einen Omnibus einsteigt, oder eben nicht? Ist's nicht stattdessen so, daß diese ihm den Raum zur schöpferischen Tätigkeit erst gewähren, ihn bereitstellen, und wie der Mensch sich auch mühen mag, seine Teilhabe an diesen Universalien zu vergrößern - er wird dadurch doch weder der Musik, noch der Sprache, auch nur ein Jota hinzufügen oder entnehmen können? Verdanken also, diesen Faden mal weitergesponnen, Sprache und Musik ihr Dasein dem Menschen, oder verdankt er ihnen im Gegenteil gar das seine? Hmm, schwierige Frage... ich halte es darin jedenfalls mit M. Heidegger: Die Sprache (und in meiner Version auch die Musik) ist das Haus des Seins.
Die "Unsterblichkeit" eines Werkes ist ohnehin eine historisch begrenzte Fiktion und primär von seiner Rezeption durch Zuhörer und Kritiker, sowie die Kanonisierung durch Institutionen und Interpreten abhängig [...]
Das ist solide, unanfechtbar und gewissermaßen mit beiden Beinen auf dem Boden gedacht, doch Du ahnst es sicher schon: Der wuwei zielte mit dem Köder der Unsterblichkeit in durchaus andere Sphären, denn auf dem Boden zu bleiben, wollte ihm da so ganz und gar nicht in den Sinn kommen...
Meine Grundüberlegung dazu ist denkbar schlicht, nämlich: Was haben Sprache und Musik eigentlich zur Voraussetzung? Ganz klar: das Schweigen! Ohne Schweigen sind beide nicht denkbar. Sie erheben sich aus dem Schweigen und münden in es, sie brechen das Schweigen und führen wieder zu ihm hin. Man könnte auch sagen: Das Schweigen gebiert die Musik, wie auch die Sprache. Es ist also deren Urgrund und Heimstatt. Und wär's nicht sogar möglich, daß es beim Musizieren und Sprechen weniger auf die Töne und Worte selbst ankommt, die erklingen, sondern auf das Schweigen, das durch sie hindurch hörbar wird, das sie dem Hörer auf neue, vielleicht einzigartige Weise erfahrbar machen; ähnlich wie es bei den Propyläen ja nicht um die Säulen an sich, oder deren Beschaffenheit geht, sondern eben um den Himmel, den man durch sie hindurch, mit neuem Blick begabt, sieht. Wo dagegen pausenlos gedudelt oder geplappert wird, nähern sich Musik und Sprache der Unverständlichkeit, ja der völligen Sinnlosigkeit, dem Lärm, dem Chaos an.
Wenn aber das Schweigen Musik und Sprache aus sich heraus gebären kann, dann muß es doch eine Qualität, eine bestimmte Beschaffenheit haben, oder? Es kann somit nicht einfach die Abwesenheit von Musik oder Sprache sein, denn es muß ja Musik und Sprache bereits als Potenz, als latente Möglichkeit in sich tragen. Wir dürfen deshalb mit einem gewissen Recht vermuten, daß Schweigen nicht Nichts ist, sondern eine Seinsform mit einem wie auch immer gearteten Energiezustand (einer Qualität). Und wäre es jetzt abwegig, desweiteren zu vermuten, daß Musik und Sprache, wenn sie wieder im Schweigen münden, dies nicht sang- und klanglos tun, sondern daß die Worte, Gedanken, Rhythmen, Melodien und Harmonien beladen wie die Bienen heimkehren, und im besten Fall die Kraft haben, den Energiezustand, die Potenz des Schweigens zu verändern? Und wäre das nicht eindeutiges Insignium eines Kunstwerks, das Schweigen "aufladen" zu können? Und wäre es dadurch nicht auch zwingend unsterblich - fern aller Kennerzänkereien und dem Puplikumsgeschmack?
Btw: Das Concierto de Aranjuez ist mir von jeher ein Greuel. Werde nie verstehen, wie man sich das freiwillig ein zweites Mal anhören kann...
Herzlichen Gruß, Uwe