Die Kunst der "Gro?en Musik"

Alles, was mit akustischer Gitarrenmusik zu tun hat und sonst nirgends hineinpaßt

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RB
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Die Kunst der "Großen Musik"

Beitrag von RB »

Heute hatte ich wieder so ein Erlebnis, das Anlaß zu der Frage bietet, ob ich auch wirklcih alle Tassen im Schrank habe. Ich höre "The two Soldiers", gespielt von Norman Blake und beglitten von Tony Rice. Es handelt sich um eine Melodie von großert Tragweite und Schönheit, eingebettet in ein Fundament aus Dur. Trotzdem ist die Musik traurig und machte mich beim Autofahren heulen. Da dachte ich mir: Das ist eben mehr, als das vermaledeite tot-dreschen von Moll-Kadenzen.

Das Abnudeln von Mollkadenzen ist einer der Gründe, warum mir manche "Latin"-Musik eher zuwider ist. Pathos bis zur Kotzgrenze aber sonst nicht viel und dann kommt dieses schlichte Lied daher mit einer solchen Kraft. Ich nehme an, es ist nicht so einfach, ein trauriges Lied zu erfinden, das vollständig in Dur ist, aber es geht. Moll-Akkorde kann ich nur als Übergangsakkorde ertragen (außer es gilt, einen verendeten Diktator zu Grabe zu tragen).

Was sacht Ihr dazu:

1. Ist es normal für einen alten Mann wie mich, von Musik derart außer Contenance gebracht zu werden ? Heult sonst noch jemand manchmal ?

2. Hat die Kadenz in Moll heute - im Zeitalter des weißen Riesen, von Doppelherz und Klosterfrau Melissengeist - noch ihre Berechtigung ?
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H-bone
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Beitrag von H-bone »

Hallo Reinhard,

keine Sorge, die Tatsache dass Musik emotional berühren kann stirbt hoffentlich nie aus ! Und oft sind es genau die kleinen, simplen Songs dsie genau dahin treffen wo man denkt dass irgendwann früher mal ein Herz gewesen sein soll... zeigt einem doch dass es zumindest rudimentär noch vorhanden ist :wink:

Ich hab' am vergangenen Freitag ähnliches erlebt, der Klaus Brandl (very famous Blues-Singer in Mid Fraconia) kam vorbei und hat mir eine DVD geschenkt mit dem Titel "Heartworn Highways", ein lustiges, wirres Filmchen mit meinen Heroen Townes Van Zandt, Guy Clark, Rodney Crowell, Steve Earle und John Hiatt... ich gestehe, bei der Szene wo der junge Townes (seit ca. 5 Jahren an Lähberschrumpf gestorben) in der Küche eines alten schwarzen Wanderschmieds sein "Waiting around to die" gesungen hat kamen mir die Tränen... "...ich, der ich nicht mehr so of heule... (Georges Moustaki - Ma Solitude).

Wenn man da sieht wie die ganze Bande zu Weihnachten um Guy Clarks ("Desperados Waiting For A Train") Küchentisch sitzt und ohne jeden Anspruch an Perfektion und Virtuosität drauflosmusiziert, dann wünscht man sich ganz schnell eben jene 30 Jahre zurück die meiner Meinung nach unsere geliebte Gitarrenszene recht nachhaltig "verändert" haben... hat mich jedenfalls motiviert wieder eine ganz beachtliche Strecke "back to the roots" zu wandern... ob Dur oder Moll... ins's Herz muss es gehen.

Gruss, H-bone
Ulrich Peperle
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Beitrag von Ulrich Peperle »

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Treehugger
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Re: Die Kunst der "Großen Musik"

Beitrag von Treehugger »

RB hat geschrieben: ... Fundament aus Dur. Trotzdem ist die Musik traurig ...
Es gibt halt Interpreten, die haben das Charisma dazu.
Beispiel: Robert Smith von Cure.
Der könnte "Freude schöner Götterfunken" singen und es würde sich traurig anhören.
RB hat geschrieben: 1. Ist es normal für einen alten Mann wie mich, von Musik derart außer Contenance gebracht zu werden ? Heult sonst noch jemand manchmal ?
Ja, ich oute mich! Es gibt so einige Lieder, da passt alles. Die Musik, der Text, die Stimme. Und gibt es was Genialeres, als es mit Musik zu schaffen, andere Menschen zu Tränen zu rühren?

Von diesen Songs gibt es ganz wenige. Hier meine spontanen Einfälle:

Lucio Dalla - Caruso

Stefan Sulke/Herbert Grönemeyer - Ich hab dich nur geliebt

Claudio Baglioni (da gibt es so vier, fünf Songs). Und wenn man den dann noch live sieht, im alten griechischen Theater von Taormina (Sizilien), mit Blick auf das Mittelmeer, beleuchtete Barkassen unten am Hafen, den rauchenden Ätna als Kulisse ... Das war die Supernova der Gefühle :cry:
Cheers,

Treehugger

Keep busy folks, 'cause no dog ever p*ssed against a moving car ... ;-)
Gast

Beitrag von Gast »

Ich könnte das gar nicht so in Worte fassen,
manche Songs nehmen mich einfach mit auf eine Traumreise, manchmal bin ich dann meilenweit weg. Ich durchwandere Landschaften, gelegentlich bin ich dann auch nicht mehr der, der ich bin sondern der, der ich wünschte zu sein. Hmm, ist das noch normal? :roll:

Musik ist für mich eben auch ein Schlüssel der viele Türen öffnen kann,
manchmal verbirgt sich hinter der einen oder anderen Tür etwas ganz unerwartetes. :wink:

Carsten
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RB
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Beitrag von RB »

@Ulrich:
Mir ging es um die erste Frage, die zweite war eine Scherzfrage und sollte der Bemäntelung und pimpeligen Abschwächung der Hauptfrage dienen. Ein deutscher Junge heult schließlich nicht. Dennoch fand ich Deine Ausführungen höchst interessant. Natürlich reizen sie mich auch zum Widerspruch:

Ich lese immer Sozialisation Sozialisation Sozialisation. Alles unbewiesene Behauptungen. Der nasciturus als unbeschriebenes Blatt. Ab der Geburt (oder vielleicht auch schon ein wenig vorher) beginnt die "Prägung". Das Blatt wird beschrieben, der leere Controller wird programmiert und am Ende ist der Mensch ein Produkt. Das ist alte Frankfurter Schule und ich glaube kein Wort davon, auch nicht hinsichtlich der Musik.

Schon die alten Griechen (gerade die) haben die Wirkung von Intervallen auf den Menschen beschrieben, den Grad der Reibung und Verschmelzung. Reibung und Verschmelzung haben als Wirkung und Empfindung etwas mit den Frequenzverhältnissen zu tun. Sie sind "weiter unten" im menschlichen Wesen angesiedelt, als ausgerechnet auf der Ebene der Sozialisation. Der Akkord als "Schichtung" von Intervallen ist also sozusagen eine Melange aus mehreren Reibungs- bzw. Verschmelzungs-Empfindungen.

Wenn alles nur ein Ergebnis der Sozialisation wäre, würden weder Klassik, noch "westliche Musik" bei Asiaten oder Naturvölkern eine Wirkung entfalten. Nun hat man aber in der Vergangenheit schon mehrfach gerade im Urwald aufgefundenen Naturvölkern, die noch keinen anderen Menschen, als die eigene Art gesehen hatten, auf Grammphonen und Spulentonbandgeräten "westliche" sowie klassische Musik vorgespielt und festgestellt, daß sie bei den Zuhörern mit großen Emotionen aufgenommen wurde und man immer wieder um erneutes Vorspielen bat. Da kann die Sozialisation keine Rolle gespielt haben. Ich will nicht gänzlich in Abrede
stellen, daß man sich mit der Zeit an eine Folge von Septimakorden gewöhnen kann, die nicht nur ein Vorhalt und Übergang von meinethalben der Dominante zur Subdominante sind. Aber sonst ? Nix Sozialisation.

Wenn ich dann einmal als "Akkordsetzer" sprechen darf: Wenn ich
einen Akkord als die Schichtung von Terzen ansehe dann muß ich mich bei der ersten Terz schon entscheiden: "Nehme ich die kleine oder die große Terz." Nach dem Treffen dieser Wahl habe ich das Tongeschlecht des Akkordes festgelegt: Dur oder Moll. Im Akkord (der Terzschichtung) gibt es nur diese beiden Möglichkeiten. Es gibt kein pentatonischen, äolischen oder mixolydischen Akkord. Allerdings räume ich ein höchst beschränktes musiktheoretisches Wissen ein und harre ergeben den möglicherweise folgenden Erweiterungen meines Horizontes.

Mir ist klar, daß die Kadenz lediglich ein kompositorisches Gerüst ist und in ihrer Reinform selten einmal vorkommt. Wenn sie aber auftritt, dann orchestral arrangiert, in gewaltigen Hall eingebettet und von irgendwoher plärrend, während ich auf der Terasse sitzend gerade meine Ruhe haben will. Wenn ich die Existenzberechtigung einer Kadenz diskutiere, dann meine ich das in ihr verkörperte kompositorische Konzept. Oder so.
montechristo
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Beitrag von montechristo »

Ich gebs zu: Auch ich verdrücke gelegentlich ein Tränchen der Rührung, hervorgerufen durch eine Musik, die ins Herz geht. Je mehr Rotwein ich intus habe, desto leichter geschieht das.
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