experimentelle Gitarrenmusik ?

Alles, was mit akustischer Gitarrenmusik zu tun hat und sonst nirgends hineinpaßt

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Rolli
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von Rolli »

silentstring hat geschrieben:Was ist experimentelle Gitarrenmusik und wohin führt sie ?
Ja, kann all das beinhalten, was Du schriebst und führt meist zu einem etwas ausgewählterem Publikum und manchmal auch zu spannender neuer Musik!
Schöne Grüße, Rolli
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rwe
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von rwe »

silentstring hat geschrieben:Ist Experimentelles notwendig, um Grenzen auszuloten und diese dann einzureißen und um der Musik neue „Horizonte“ zu öffnen ?
Jaa, aber das war schon immer so. Auch Bach und Beethoven haben die Gewohnheiten ihrer Zeit gesprengt.
silentstring hat geschrieben: Ist es das Spiel mit Dissonanzen, ohne erkennbare melodische und harmonische Strukturen ?
Ist es die Verwendung elektronischer Effekte zur Verfremdung des natürlichen akustischen Klangs ?
Kann alles, muss nicht. Wobei aber das Erkennen von Strukturen auch nicht jedem gegeben ist... Hören muss man auch lernen.
silentstring hat geschrieben:Ist es das demonstrative Brüskieren des Hörers mit Klängen, die nicht seinen Erwartungen an akustische Gitarrenmusik entsprechen ?
Hmm, wenn der Hörer heute einen musikalischen Erwartungshorizont hat, der eigentlich schon vor 100 Jahren nicht mehr up2date war...
Bernd C. Hoffmann
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von Bernd C. Hoffmann »

Was ich aus dem Fragenkatalog herauslese, ist nichts anderes als sog. Neue Musik. Hier vor Ort lebt ein international renommierter Komponist, der von der Gitarre kommt (Studium u. a. bei Heinz Teuchert). Er befasst sich "mit den Chancen und Möglichkeiten der Komposition im interdisziplinären Dialog". Sein Werk "7 Inventionen da aeternitatem petendo" ist komponiert für 2 Gitarren, 2 Tonbänder und 3 (?) Ringmodulatoren. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, dann ist auch eine Gitarre dabei, bei der eine Saite aufgetrennt und mit einer Spiralfelder verbunden wird. Bei einer anderen für Flöten und Gitarre wird die Gitarre auf den Basssaiten mit einem Geigenbogen gespielt. Daneben komponiert er Werke für diverse mikrotonale Stimmungen. In seinen Werken greift er häufig zu völlig untypischen Klangmöglichkeiten, die man von den Instrumenten normalerweise überhaupt kennt, und packt dies in musikalische Strukturen. Auch spielt er gezielt mit unterschiedlichen Formen der Angst beim Zuhörer, was er gekonnt einsetzt.
Das Lesen der Partituren ist schon eine Sache für sich. Für eine Komposition für Akkordeon waren von der Interpretin 7 Systeme parallel zu lesen. Viele seiner Werke haben eine gitarristische Orientierung.

Michael Quell ist hier als Musiklehrer an einer Privatschule tätig, wird von Universitäten weltweit u. a. zu Fachvorträgen über Kompositionsmethoden für Neue Musik eingeladen und erhält Auftragskompositionen, die auf allen wichtigen Zentren für Neue Musik aufgeführt bzw. Uraufgeführt werden. In meinem Forum gibt es eine kleine Rubrik zu dem Thema mit weiteren Informationen über ihn.

In mir sträubt sich etwas, wenn man es als experimentelle (Gitarren-)Musik bezeichnet, weil es keinerlei Experimente sondern bewusst gewollte und geplante Kompositionen sind. Als ich 1990 von Bielefeld nach Fulda umzog, wurde ich das erste Mal mit dieser Musik konfrontiert. Ich wusste damals nicht, dass Michael Quell nur 5 Minuten Fußweg von mir entfernt wohnte. Ein Nachbar sagte mir, ich könne ihn auch anrufen. Daraus wurde ein langes Gespräch, nach dem mir anschließend der Kopf rauchte. Es war aber der Zeitpunkt, wo ich mich dafür öffnete; richtig ist, er hat mir den den Horizont dafür geöffnet. So bin ich nach und nach soweit hinein gekommen, dass ich mich beim Hören dieser Musik in einer besonderen Form einer Entdeckungsreise befinde, die ich nicht näher beschreiben kann.
Liebe Grüße
Bernd
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Niels Cremer
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von Niels Cremer »

Bernd C. Hoffmann hat geschrieben:... Auch spielt er gezielt mit unterschiedlichen Formen der Angst beim Zuhörer, was er gekonnt einsetzt.
Nach Lektüre deiner Beschreibung ist das bei mir schon ganz ohne Hören gelungen.

LG,
Niels
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tomis
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von tomis »

ich habe keine angst beim zuhören gespürt
mir fehlt der groove
macht mir keinen spaß aber ist trotzdem irgendwie witzig
geht mir das experimentelle zu weit ?
fehlt mir der humor ?
vielleicht will ich keine neuen horizonte mehr ausloten
oder grenzen einreißen
ist doch alles gar nicht schlecht so wie es ist

aber ich habe da was:
https://filehorst.de/d/baoFgnfD" onclick="window.open(this.href);return false;
muss wohl so um die 35j her sein
irgend so ein moog, digitaldelay 1. generation, tascam 4 kanal portastudio
leider keine gitarre

da bin ich mal gespannt, wer sich das bis zum schluss anhört :roll:
mit Blues und Gruß
Thomas
wernoohm
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von wernoohm »

Viel zu konventionell, Thomas!!! Und vor allen Dingen zu witzig! Kein Vergleich zu den Werken des Herrn Quell!
tressli bessli nebogen leila
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Bernd C. Hoffmann
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von Bernd C. Hoffmann »

tomis hat geschrieben:aber ich habe da was:
https://filehorst.de/d/baoFgnfD" onclick="window.open(this.href);return false;" onclick="window.open(this.href);return false;" onclick="window.open(this.href);return false;
muss wohl so um die 35j her sein
irgend so ein moog, digitaldelay 1. generation, tascam 4 kanal portastudio
leider keine gitarre

da bin ich mal gespannt, wer sich das bis zum schluss anhört :roll:
Ich habe es mir bis zum Schluss angehört. Das ist für mein Verständnis tatsächlich experimentelle Musik bzw. ein Experiment. Kreativ ist das aber überhaupt nicht. Wenn das vor 35 Jahren entstanden ist, dann waren das zum Einen klangliche Möglichkeiten, die jeder Synthesizer mit einem Fingerstreichen über eine Fläche am Gerät vollbringen konnte (die Tonhöhe betreffend; wir haben damals selber die Musikgeschäfte aufgesucht, um durch Herumgespiele diese neuen Klänge ein wenig zu entdecken. Zum Andern sind die Sprachgeräusche durch Änderung der Abspielgeschwindigkeit von Tonbändern erzeugt worden. Es geht also lediglich darum, Töne am Synthesizer mit eingebauten Möglichkeiten sowie Bandlaufgeschwindigkeiten an Tonbändern zu verändern. Mit anderen Worten: Jeder Doofe kann das. Das ist keine ernstzunehmende Komposition, die im Vorfeld geplant und notiert wurde sondern eine Momentaufnahme als Beispiel zu technischen Möglichkeiten. Mit Neuer Musik hat das absolut nichts zu tun. Trotzdem fand ich es amüsant. Ich muss es aber nicht öfters hören, weil sich mein Interesse an unkreativen Leistungen sehr in Grenzen hält.
tomis hat geschrieben:mir fehlt der groove
Mir nicht. Groove kriegt man an jeder Ecke hinterher geworfen, zudem wird ihm mMn wegen seiner überall zur Selbstverständlichkeit gewordenen Präsenz viel zu viel Bedeutung zugesprochen. Insbesondere ist Groove, wie er hier verstanden wird, rein metrisch zu sehen, also im Wesentlichen in einer immer wiederkehrenden, gleichbleibenden Abfolge von gesetzten Akzenten. Jeder weiß genau, wann der nächste Akzent kommt (vermutlich haben besonders die Schlagerfuzies deswegen ständig gute Laune). Um Groove geht es der Neuen Musik nicht, denn das ist ein alter Hut. Metrik und Rhythmik sehe ich als ein Konstrukt der Tondauer. Wenn man sich die Komposition unter diesem Aspekt anschaut, dann wird deutlich, dass es ausschließlich um Präzision. Dies ist eine der herausragenden Anforderungen an die Interpreten, was Neue Musik zu spielen für technisch durchschnittliche Musiker weitgehend unmöglich macht.

Nicht nur die Neue Musik als Ganzes sondern auch jede einzelne Komposition stellt einen völlig eigenen, ganz anderen Mikrokosmos dar als das nächste Stück im Programm. Der Grund, weshalb die breite Masse sich gegen Neue Musik sträubt, liegt nur darin, dass wir von Anfang von diatonisch konsonanter Musik umgeben sind - weil sie uns familiär und medial als Selbstverständnis für "schöne Musik" untergejubelt wird! Und genau diese Hörgewohnheiten sind es, die als Maßstab für Gut oder Schlecht herangezogen werden. Von der Sache her ist das absolut inkompetent. Das war bei mir nicht anders. Melodisch kreativer Heavy Metal mit herausragenden Musikern gefällt mir seit meiner frühen Jugend bis heute, wenngleich der Anteil zu Gunsten anderer Richtungen deutlich geringer geworden ist. Eine Folge der e. g. Inkompetenz ist die Nichtkontrolle eigener Negativgefühle, sobald Neue Musik erklingt, denn dann fällt es leicht zusätzlich mit Unverständnis, kaputter Welt und sonst noch alles zu argumentieren. Als ich nach Fulda kam und die Kassette zu Teuchert´s Gitarrenschule Bd. 2 hörte, stieg bei Michael Quell´s Kontrapunkt für 2 Gitarren schlagartig mein Aggressionspotenzial in ungeahnte Höhen. Ich war tatsächlich kurz davor, vor Wut über "diesen Sch..ß" in die Lautsprecherboxen zu treten. Als ich mich abreagierte, begann ich zu überlegen, weshalb so ein Stück und 2 weitere solche Studien wohl in einem Lehrbuch stehen. Dann wandte ich mich direkt an den Komponist. Von da an setzte ein Wendepunkt in meiner Auseinandersetzung mit dieser Musik ein, dem ich mich immer mehr öffnen konnte.

Niemand kann Neue Musik durch vorhergehende andere Prägung mit der gleichen Wertstellung "konsumieren", wie die Musik, durch die er geprägt ist. Um das zu erreichen - und vielleicht sogar in die Ebene zu kommen, um bewertende Aussagen über das einzelne Stück/die einzelne Komposition zu treffen -, sind Hintergrundinformationen über den Komponisten und seiner Idee/Vorgabe zu dieser Komposition in Verbindung mit den Interpreten (direkt oder indirekt) unabdingbar. Das ist zumindest meine Erfahrung, die nicht mehr hinterfragen muss, weil sie sich in Jahrzehnten immer wieder (auch bei anderen) bestätigt hat. Ergo: Es spricht nichts dagegen sich mit der Musik zu befassen, die einem gefällt. Bevor man sich jedoch über "gute Musik" im Allgemeinen äußern möchte und sich dabei auf ein neues Terrain bewegt, der sollte sich auch ein bisschen damit befassen, ob sein Verständnis für gewisse Urteile (auch wenn das hier bisher nicht der Fall ist) im neuen Terrain wirklich ausreichend ist. Beispielsweise wusste ich, warum ich mich bei den ersten Konzertbesuchen zurückhielt. Ich hätte mich zum Affen gemacht, weil ich durch mein bisheriges Musikverständnis überhaupt nicht verstehen konnte, dass Musik auch ganz andere Ansätze hat, die weit über das "tägliche Allerlei" hinaus gehen.
Liebe Grüße
Bernd
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scifi
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von scifi »

Was mir bei mechanischer "neuer Musik" (im Gegensatz zu elektronischer) immer wieder auffällt: live in einem Konzert gefällt mir diese oft sehr gut - aus der Konserve dagegen selten. Im normalen Stereosound der Anlage geht da anscheinend viel Spiel und Zusammenwirken mit dem Raumklang verloren.

Zum Beispiel Ligetis berühmets Lux aeterna durch ein auf solche Musik spezialisiertes Vokalensemble vor einigen Jahren in einer alten und akustisch tollen Kapelle, dass war schlicht unglaublich und wird mir mein Leben lang in Erinnerung bleiben. Das hat meinen musikalischen Blickwinkel völlig verändert.

Ich habe aber ehrlich gesagt noch nie etwas "modernes" aus dem E-Bereich auf der Gitarre gehört, was mich überzeugt hat. Vielleicht ist die Klampfe durch ihr irgendwie-Temperierung dafür klanglich nicht so geeignet?
Bernd C. Hoffmann
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von Bernd C. Hoffmann »

silentstring hat geschrieben:Man kommt schnell an den Punkt zu hinterfragen, welche „Funktion“ Musik hat und haben soll (ich rede hier ausdrücklich nicht von funktioneller Musik). Vor sehr langer Zeit hatte ich eine Phase, in der ich mich mit Neuer Musik auseinandersetzte, dann aber irgendwann an den Punkt kam der für mich klarmachte, dass mein Zugang immer ein rein intellektuell – kognitiver war, mir fehlte aber immer „Etwas“, das Durchatmen, das positiv Emotionale.

Musik in der Angst erzeugt wird lässt mich erschaudern und ich frage mich: „Warum ?“
Zunächst kannst Du davon ausgehen, dass Du wahrscheinlich gar nicht weißt, wie viel Angst durch Musik bewusst unter die Leute gestreut wird, weil Du die Sprache ganz einfach nicht oder nicht vollumfänglich verstehst. Über meine Weltanschauung muss ich hier nichts mehr verraten, doch ich habe keine Angst, auch nicht im Sinne von geistlich-charismatischen Denominationen, dass ich "vom Satan gefangen" werde, wenn ich mir einen der Filme "Carrie" oder "Der Exorzist" anschaue oder mir Ozzy Osbourne´s "Bark at the Moon" anhöre, wie entsprechend radikale Vertreter es gerne glauben machen wollen. Die Frage ist, ob es mir gut tut. Wenn ich davon Alpträume bekomme, dann beantwortet sich das von selbst. Ein Nebenaspekt für die Ablehnung Neuer Musik liegt auch darin, dass ihre harmonischen Elemente in Psycho-Thrillern und Horror-Schockern reichlich vertreten sind und sehr oft damit assoziiert werden. Dies war damals auch mein Standpunkt.

Es reicht bei Weitem nicht aus allgemein von Angst zu sprechen. Angst ist nichts anderes als innere Unruhe, die viele Gesichter haben kann. Es gibt positive und negative Angst. Positive Angst habe ich insbesondere dann, wenn ich mich auf mein Konzert freue und trotzdem eine gewisse Unruhe in mir spüre. Da ich meinem Ziel näher komme der Zuhörerschaft ein schönes Erlebnis zu bereiten, ist diese Angst positiv assoziiert, im Ergebnis also rein positiv. Jeder Mensch hat auch die Freiheit, um seine Angst nach freiem Belieben in Beziehung zu setzen. So habe ich die Möglichkeit, um meiner Angst genau die Bedeutung mental zuzumessen, auf welches Ereignis ich sie sie lenke: positiv oder negativ. Entsprechend wirkt es sich auf mich aus. Ich werde also zu meinem persönlichen "Angst-Designer", um besser damit umzugehen.

Wenn ich ein Konzert besuche, dann weiß ich nicht, was kommt und muss mich überraschen lassen. Auch hierauf kann ich mich entsprechend konditionieren. Insbesondere ist der musikalische Lebenslauf des Komponisten bekannt. Daraus würde sich schon ableiten lassen, ob er der Öffentlichkeit positiv gesinnt ist. Aber diese Frage stellt sich nicht, weil er mit negativer Gesinnung keine Öffentlichkeit bekommt. Es geht auch nicht darum dem Publikum "Angst zu machen". Es geht darum, bestimmte Gefühle zu erzeugen. Es gibt Menschen, die beim Hören von Rockmusik spüren, dass sich bei ihnen innere Aggression ausbreitet. Deswegen meiden sie diese Musik; sie macht ihnen Angst. Aber ist das ein Problem der Musik? - Nein. Es ist eins des Zuhörers. Er ist (ohne Weiteres) nicht damit kompatibel. Die Anschlussfrage wäre, ob das wichtig ist. Auch das kann für die Existenz völlig verneint werden, ist also völlig belanglos. Die Frage ist immer, ob man bei der Angst stehen bleibt oder sie als gegeben hinnimmt, weil sie nichts Negatives anrichtet. Aus meiner Auseinandersetzung mit Neuer Musik habe ich gelernt, dass es lediglich eine Frage dessen ist, vor welchem Hintergrund ich was an mich heran lasse. Wenn Musik keine Gefühle bewirken würde, dann hätte sie überhaupt keine Bedeutung. Wenn aber jemand kommt, der genau bewusst gewollte Gefühle bei seiner Zuhörerschaft entstehen lassen kann, die auf Grund ihrer akustischen Stilistik plangenau umgesetzt werden, dann ist für mich hoch interessant! Die Angst, z. B. in Quell´s Komposition "Extare" ist kein "Prozess von vorne bis hinten" sondern es sind entstehend viele unterschiedliche Elemente im Vordergrund, die sich erst an einem bestimmten Punkt am Schluss kurz auflädt, um sich dann in einem dynamisch abrupten Höhepunkt wieder zu entladen. Und damit ist alles vorbei. Es geht nicht um die Angst sondern um das Erlebnis als Ganzes. Niemand besucht mit dem Bewusstsein ein Konzert oder hört eine CD mit der Sorge um Angst. Wer dieser Ansicht ist, hat ein völlig falsches Verständnis. Genau deswegen ist es wichtig, dass man die Neue Musik immer in dem Zusammenhang sehen muss, wie ich es im vorigen Beitrag beschrieben habe.

Ein Nachgedanke:
Die amerikanische Band Skid Row hat zu ihrem Stück "18 and Life" ein Video gemacht. Als ich damals die LP abspielte, hatte ich auf Grund des Textes schon ein besonderes Kopfkino. Erst vor ein paar Jahren, als ich einen zeitlichen Flashback hatte, suchte ich auf Youtube danach. Der Inhalt entsprach in seiner Aussage meinem Kopfkino. In dem Lied geht es um einen Jugendlichen, der in schlechten Verhältnissen bei seinem saufenden Vater aufwächst. Als er sich dagegen wehrt, schmeißt sein Vater ihn raus. Der Liedtext lässt mit unterschwelliger Sorge ahnen, worauf es hinaus läuft. Er kommt auf die schiefe Bahn, besorgt sich eine Schusswaffe und greift zur Flasche. Schließlich erschießt er im Streit einen anderen Jugendlichen - Textstelle letzte Strophe: "That child blew a child away". Ergo: Angst ist nie isoliert zu betrachten sondern muss immer im Zusammenhang gesehen werden. Hat sie keinen Zusammenhang, dann muss man ihr einen geben, mit dem man umgehen kann.
Zuletzt geändert von Bernd C. Hoffmann am Sa Okt 19, 2019 6:49 pm, insgesamt 3-mal geändert.
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Bernd C. Hoffmann
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von Bernd C. Hoffmann »

scifi hat geschrieben:Was mir bei mechanischer "neuer Musik" (im Gegensatz zu elektronischer) immer wieder auffällt: live in einem Konzert gefällt mir diese oft sehr gut - aus der Konserve dagegen selten. Im normalen Stereosound der Anlage geht da anscheinend viel Spiel und Zusammenwirken mit dem Raumklang verloren.

Zum Beispiel Ligetis berühmets Lux aeterna durch ein auf solche Musik spezialisiertes Vokalensemble vor einigen Jahren in einer alten und akustisch tollen Kapelle, dass war schlicht unglaublich und wird mir mein Leben lang in Erinnerung bleiben. Das hat meinen musikalischen Blickwinkel völlig verändert.
In einem Gespräch mit Michael Quell ging es um einen Flügel, der für eine Komposition vorübergehend modifiziert werden musste. Die Modifikation musste auf die akustischen Raumverhältnisse abgestimmt werden. Das ist tatsächlich ein besonderer Aspekt, auf Generalproben öfters besondere Beachtung findet.
scifi hat geschrieben:Ich habe aber ehrlich gesagt noch nie etwas "modernes" aus dem E-Bereich auf der Gitarre gehört, was mich überzeugt hat. Vielleicht ist die Klampfe durch ihr irgendwie-Temperierung dafür klanglich nicht so geeignet?
Dann suche mal "contemporary guitar music".
In meinem Forum hatte ich mal 2 zeitgenössische Kompositionen von Goffredo Petrassi und Brian Head genannt. Brian Head bedient sich in seinem Stück "Lobster Tale" auch reichlich an weichen und scharfen Dissonanzen, ist aber durchgängig tonal gesetzt. Auch fällt er nicht in die Kategorie der Neuen Musik. Dieses Stück wird hier wahrscheinlich viel mehr Lorbeeren ernten...

Wen es interessiert, hier sind sie:
Nunc (Petrassi)
https://youtu.be/mKX8-gSOptE" onclick="window.open(this.href);return false;" onclick="window.open(this.href);return false;

Lobster Tale (Head)
https://youtu.be/eWcHZSaPuFo" onclick="window.open(this.href);return false;" onclick="window.open(this.href);return false;
Liebe Grüße
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jab
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von jab »

Damals, vor langer Zeit, hab ich an der Organisation eines Gitarrenfestivals mitgewirkt. Da wurde dann auch ein Preis für neue Gitarrenmusik ausgelobt, die drei besten Stücke wurden dann von sehr guten Gitarristen vorgetragen. Es war sehr seltsam, was da kam. Ich habe mir die Stücke angehört und fand sie furchtbar (Die Gitarristen waren auch unterwältigt..). Es war, als hätte die Vorgabe gelautet: Vermeiden sie unbedingt erkennbare Strukturen, Melodie oder Rhythmus. Verwenden Sie so viele Flageoletts wie irgend möglich!

Tja..

Ich sehe überhaupt keinen Sinn darin, mir sowas anzuhören (oder mir manches "moderne" Kunstwerk anzusehen), wirklich, ich bin auf der Stelle gelangweilt, das spricht nichts zu mir, es ist mir wurscht, soll aber bitte aufhören. Wenn ich das selbst kontrollieren kann, mach ich das, sonst gehe ich weg. Mir ist meine Zeit dafürzu kostbar. Wenn ich erst den Lebensweg des Künstlers kennen muss (oder seine Philosophie) um die Sachen zu verstehen, ist das nicht für mich gemacht. Ich habe nichts dagegen, wenn in der Kunst/Musik tiefere Schichten zu erkunden gibt (das ist sogar sehr cool!), bloß, wenn die erste Schicht mich nicht interessiert, interessieren mich die nächsten erst recht nicht.

Ich lese auch keine Bücher mehr, wenn mich die Geschichte nicht interessiert oder die Protagnisten alles Arschlöcher sind. Brauch ich nicht.

Das jetzt als mangelnde Bildung meinerseits abzutun, liegt natürlich nahe, und, wenn es denn glücklich macht, bittesehr, aber es ist eine sehr bewusste Entscheidung.

Ich kann schon verstehen, woher der Drang kommt, solche Kunst zu machen. Es ist sehr schwer (besonders im "klassischen" Bereich), Musik zu schreiben, die nicht an irgend etwas anderes erinnert. Ich kann nachvollziehen, dass man da in die Extreme geht, um überhaupt irgendwo anzukommen. Ich kann auch Maler verstehen, die Fotorealismus ablehnen und lieber mit der Rolle arbeiten oder mit Exkrementen oder Blut.. Aber wenn ich wählen kann, schau ich mir das nicht an.

Wenn ich jedoch vor einem Dali stehe und in der Ecke winzige fotorealistische Ameisen sehe, finde ich das extrem klasse.

Insgesamt gilt natürlich, jeder darf das mögen, was er mag, von mir aus kann man sogar Brecht im Theater anschauen (Das Theater als moralische Anstalt... was für eine furchtbare Idee!) und sich moralinsaures Zeugs reintun, bitte, von mir aus. Das hat in meinen Augen oft was evangelisches, so streng und leidend und es wird erst im nächsten Leben schön... Och...

Es gibt so viel cooles Zeug auf der Welt...

:)
Jab
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späterblues

Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von späterblues »

Nach meinem Eindruck hängt das was wir als gute oder angenehme Musik empfinden ganz wesentlich von unseren Hörgewohnheiten und Hörgewöhnung ab. Diese fehlt bei experimenteller neuer Musik. Deswegen hat es "neue" Musik meist schwer sich zu etablieren bzw. braucht einen langen Atem, wenn und weil sie weit weg von den Hörgewohnheiten ist.
Bernd C. Hoffmann
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von Bernd C. Hoffmann »

Es bedeutet für manche Menschen mit ignoranter Haltung offenbar sehr viel mentaler Aufwand, um sich ein paar zusammengefasste Zeilen über den Komponisten durchzulesen, die man bei jedem Konzert im Programmheft kostenlos mitgeliefert bekommt...

Die Frage ist letztlich nur, ob man abseits bestimmter Hörgewohnheiten bereit ist sich für andere Hörgewohnheiten zu öffnen. Wo ich damals in der Blüte meiner Jugend sagen würde, "ich hätte kotzen können", sage ich heute, dass ich froh bin mich dafür geöffnet zu haben. Man "entdeckt" ganz anders, d. h. viel reicher und bewusster, wenn man etwas Hintergrundwissen für einen "Transport durch diese Musik hindurch" hat. Das ist für mich bei Konzerten der Kick aus dem Alltag. Vieles hängt ausschließlich von der eigenen Einstellung ab. Man kann sich an alles gewöhnen, wenn man bereit ist es zuzulassen.

Ich hatte damals einen der absolut miesesten Unterrichtstage, die man sich nur vorstellen kann. Das war ein heißer Sommertag. Am Abend hatte ich schwere Kopfschmerzen. Als ich anschließend in ein Konzert mit Neuer Musik ging, konnte ich mit geschlossenen Augen in den "krummen Klängen" baden. Meine Kopfschmerzen gingen dadurch weg und ich konnte mich sehr gut entspannen. Ich war sehr angenehm überrascht, weil ich damit überhaupt nicht gerechnet habe. Ursprünglich dachte ich, dass ich vorzeitig nach Hause gehen würde. Es kann ruhig jeder mit dem diatonalen Strom schwimmen. Ich schwimme auch dagegen an, weil es besondere Tageskontraste sind, die nicht immer vorkommen. Deswegen sind sie für mich sehr wertvoll.
Liebe Grüße
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jab
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von jab »

Bernd C. Hoffmann hat geschrieben:Es bedeutet für manche Menschen mit ignoranter Haltung offenbar sehr viel mentaler Aufwand, um sich ein paar zusammengefasste Zeilen über den Komponisten durchzulesen, die man bei jedem Konzert im Programmheft kostenlos mitgeliefert bekommt...
:lol: Vielen Dank dafür!

Mal ernsthaft: Wieso ist es ignorant, wenn man festgestellt hat, dass man bestimmte Sachen einfach nicht mag? Ich mag übrigens auch keinen Schlager und wenn ein Song mit Melodyne-veredelter Stimme läuft, schalte ich das sofort ab. Bin ich da auch ignorant? Oder nur bei Sachen, die du gut findest?

Jab
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Rolli
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Re: experimentelle Gitarrenmusik ?

Beitrag von Rolli »

Ich mag experimentelle Gitarrenmusik, bevorzuge aber Werke mit Piano / Gesang.
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Dann finde ich, dass nicht nur dem Groove zuviel Beachtung geschenkt wird, sondern die Melodie generell der Feind ist. :contra: :pro: :contra: :contra: :contra: :pro: :pro: :contra: :pro: :pro: :contra:
Ich kann vieles von Bernd C.s Ausführungen unterschreiben, nur halt mit weniger Vehemenz und mehr mehr Freundlichkeit für den Andershörenden. Niemand verlangt ja, dass man sich aus den selben Gründen mit Rex Gildo auseinandersetzen sollte.
Zuletzt geändert von Rolli am Mi Okt 23, 2019 10:14 am, insgesamt 1-mal geändert.
Schöne Grüße, Rolli
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