Erfolg und Mißerfolg beim Üben

Alles, was mit akustischer Gitarrenmusik zu tun hat und sonst nirgends hineinpaßt

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Holger Hendel
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Re: Erfolg und Mißerfolg beim Üben

Beitrag von Holger Hendel »

Vielen Dank für das interessante Thema. Da ich sehr gerne sehr viel Zeit mit taktischen / strategischen Konfliktsimulationen am Rechner UND mit Gitarrespielen / Unterrichten / Üben / Proben / Auftritten etc. verbringe stecke ich in einem ständigen Dilemma: wohinein die knappe Zeit investieren? :? So habe ich mir vor einigen Jahren eine für mich persönlich effiziente Strategie zurechtgelegt die ich auch in meiner täglichen Arbeit mMn ziemlich erfolgreich einsetze. Ich schreibe euch mal wie ich es idealer Weise mache wenn ich nicht gerade wieder einige Stunden in combat mission versenke. ;) Die beschriebenen vier Phasen durchlaufe ich dabei stets in der genannten Reihenfolge. Formulierungen sind z.T. aus meinem handout übernommen, z.T. frei also nicht über den inkonsistenten Schreibstil wundern.

Zielsetzung
Nichts motiviert mehr als sichtbarer Erfolg, v.a. dann, wenn wir das Erfolgserlebnis durch unser eigenes Überlegen und Tun herbeigeführt haben. Um ein Erfolgserlebnis als solches überhaupt wahrnehmen zu können ist es von entscheidender Wichtigkeit, dass wir uns ständig Ziele stecken auf die wir dann hinarbeiten.

Die persönliche Zielformulierung muss möglichst präzise sein:
- nicht so: „besser Gitarre spielen können“
- sondern z.B. so: „Song xy bei der Schulveranstaltung spielen“, „das Solo von Song xy auf Originalgeschwindigkeit spielen“, „Spieltechnik xy beherrschen“, „alle Töne auf dem Griffbrett benennen können“.

VOR jeder Übesession die Ziele definieren! Sonst ist es kein „Üben“ sondern „Spielen“!

Training der Motorik (ca. 25% der eingesetzten Zeit)
Hier geht es um die Erkenntnis, dass Fingerfertigkeit, Koordination, Synchronisation, Kraft, Ausdauer...Motorik trainiert werden muss um in der Lage zu sein, die Dinge auf der Gitarre spielen zu können die ich gerne spielen möchte.

Ein Athlet wird je nach Disziplin z.B. Dehnübungen, Sprints, Langstreckenläufe, Krafttraining usw. machen. Damit er beim Wettkampf bestmöglich vorbereitet bist.

Anlauf zum Hochsprung. Jeder einzelne Schritt ist bereits im Vorfeld geplant, Du weißt, mit welchem Fuß Du den Anlauf starten musst und Deine Schrittlänge damit das richtige Bein den Absprung ausführen kann. Muskeln & Gelenke arbeiten exakt nach Plan. Genau das wird auch beim Gitarrespielen benötigt.

Achtsames, gewissenhaftes Vergegenwärtigen jeder Musizierbewegung. Spielmaterial: Technikübungen, ggf. Etüden. Vgl. z.B. sowas hier

Theorie (ca. 25% der eingesetzten Zeit)
Musiktheorie. Gitarrenspezifische Theorie. Die Erkenntnis, dass wir uns vergegenwärtigen sollten, was genau wir auf der Gitarre tun. Wissen-Aneignung. Auseinandersetzung mit NEUEM Wissen aus Unterricht, aus Büchern, aus Foren ;) etc. ...z.B. Akkorde, Skalen, Spieltechniken, Songabläufe, TAB-Lesen, Takte auszählen, Intervalle, Intervallstruktur der Akkorde, Gehörbildung, Rhythmustraining, open tunings...

Sichte, sortiere hier den Stoff, den Du ganz konkret in der nächsten Phase aktiv am Instrument erarbeiten möchtest, mache ggf. Notizen. Natürlich ist auch ein Wiederholen / Verfestigen möglich.

Gedankenunterbau:
Soll ich an meinen Stärken oder Schwächen arbeiten?

Aktion (ca. 50% der eingesetzten Zeit)
Die vorbereiteten Inhalte stehen im Fokus unserer Aufmerksamkeit. Wir lassen uns nicht davon abhalten, zielgerichtet an ihnen zu arbeiten.

Gedankenunterbau:
Abgrenzung „Üben“ von „Spielen“

Wir üben zielgerichtet auf ein bestimmtes Ergebnis hin mit dem wir uns bereits theoretisch befasst haben. Wir haben eine sehr konkrete Vorstellung davon was unser Ziel ist.

Beispiele für diesen Bereich:
songs / parts zum playback spielen, Improvisationsübungen, songwriting, schwierige Stelle xy üben, Spieltechnik xy am Beispiel von Song xy üben...das hier erwähnte (sehr) langsame Einüben ist mir dabei ein ständiger Begleiter an den ich mich sehr oft erinnern muss.

* * *
positive Ergebnisse, das Erreichen der gesteckten Ziele = beste Motivation
* * *

So funktioniert das für mich ziemlich gut. Natürlich ist auch jede schöne Aufnahme, jeder erfolgreiche gig, jeder gut besuchte workshop etc. ein Motivationsverstärker.

Die feedbacks meiner Gitarrenfreunde zum Konzept sind durchweg positiv. Ehrlicher Weise hat stets nur ein geringer Prozentsatz Bock, sich intensiv mit der Methode auseinanderzusetzen. :lol:
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Gitarrenspieler
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Re: Erfolg und Mißerfolg beim Üben

Beitrag von Gitarrenspieler »

So sieht also der Unterschied zwischen Hobby und Broterwerb aus.
Danke für den Einblick Holger.
Gruß Wolfgang Hemd aus der Hose macht noch keinen Varoufakis
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jayminor
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Re: Erfolg und Mißerfolg beim Üben

Beitrag von jayminor »

Ich finde das meiste von dem, was Holger geschrieben hat, richtig; möchte aber an einem Punkt noch mal einhaken:
"VOR jeder Übesession die Ziele definieren! Sonst ist es kein „Üben“ sondern „Spielen“!"
Ich würde nämlich behaupten, dass "Spielen" immer auch üben ist. Denn nur durch häufiges Spielen lassen sich "technische Abläufe" (wie z.B. Fingersätze, Melodiepassagen, etc.) automatisieren, was - wie ich meine - eine wesentliche Voraussetzung ist, um sich dann auf die "emotionalen" Aspekte der Stücke konzentrieren zu können.

Ich habe bei meinen durchaus täglichen Übesessions im Grunde vier Stufen.
Insbesondere vor anstehenden Solo-Gigs von 90 Minuten oder mehr spiele ich

als erstes (vermeintliche Selbstläufer)
einige Nummern, von denen ich vorher überzeugt bin, dass die bestimmt ohne größeres Nachdenken funktionieren würden. Blöderweise gibt es auch da immer wieder Stellen die nicht ganz so klappen, diese Stellen werden dann sofort isoliert geübt, bis sie wieder ohne Nachdenken klappen. Der Song steht dann auf meinem "nachher nochmal" Zettel

als nächstes (Wiederbelebung)
Nummern, die ich für das Programm einplanen möchte, aber länger nicht mehr gespielte habe. Verfahrensweise ist da ähnlich, was die nicht funktionierenden Stellen angeht. Es sind halt meist mehr Stellen. Wenn eine Nummer so gar nicht mehr richtig präsent ist, dann stoppe ich an der Stelle und das Stück rutscht auf die Liste der Stücke, bei denen etwas neu zu erarbeiten ist.

als drittes (neu Erarbeiten)
kümmere ich mich um ein oder zwei konkrete Stücke, bei denen ich einige Stellen noch mal richtig erarbeiten muss.
Das sind dann die Nummern, die nicht klappen wollten und neue Nummern, die bisher noch gar nicht im Programm waren.

als viertes (nachher nochmal Zettel)
mache ich eine Erfolgskontrolle, ob das Üben der konkreten Stellen aus den ersten beiden Teilen bei mir hängen geblieben sind.
Wenn nicht, rutschen die auf die Liste "neu erarbeiten".

Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich diesen Ablauf oft nicht einhalte, da ich bei der Wiederbelebung von altem material oder beim neu Erarbeiten hängen bleibe. Manchmal, wenn ich an neuen eigenen Nummern oder neuen Arrangements von Covernummern bastele, mache ich auch nur das an dem Tag.
Aktuelle Infos----------> https://jay-minor.jimdosite.com/
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RB
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Re: Erfolg und Mißerfolg beim Üben

Beitrag von RB »

Eine bewusste Strategie oder Taktik habe ich nicht, hatte ich nie, vielmehr empfinde ich es als unsystematisch. In der Rückschau gibt es aber doch einige Elemente, die sich abzeichnen. Achtung, jetzt wird es doch systematisch:

1. Motivation:
a) Eine Balance zwischen Unzufriedenheit über Unvollkommenheit und Freude am Erreichten, die Liebe zur Musik sollte nicht mit Stress-und Selbsoptimierungswahn verschüttet werden.

b) Beharrungsvermögen und Resilienz gegen Frust, der aufkommen kann, wenn es nicht so läuft, wie gewünscht,
c) Begeisterung für bestimmte Stücke, Lieder und Spieltechniken,
d) Ziele, kleinschrittige Detailziele.

2. Übung
a) Siehe 1 b und d
b) Unterhaltung eines Repertoire, das in den Stand versetzt, ad hoc mindestens 30 Minuten vorzutragen. Spielen mit der Vorstellung, jemand habe gesagt, "spiel doch mal was" und eine Vielzahl von leuten erwarteten, musikalisch vollgetönt zu werden.
c) Aufnehmen,
d) Aufnehmen,
e) Aufnehmen

c, d und e so einfach wie möglich, gein Technik-Gedöns, sondern ein simpler recorder oder auch Mobiltelefon, um zu erkennen: "Wie hört sich das an".

Aber am wichtigsten ist das Fett Gedruckte. Ich erinnere mich manchmal an früher, Anfang der 70er, wo wir - einige Freunde - mit unseren Framus- und Höfner Westerngitarren abends herumsassen und Lieder spielten - viel Bob dylan war dabei- und uns Gitarrentricks zeigten. Im Sommer war das oft im Freien. Dann fühle ich mich auch im Jetzt und Heute wieder ganz zuhause.
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Rolli
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Re: Erfolg und Mißerfolg beim Üben

Beitrag von Rolli »

Ich spiele einfach nur, selbst wenn ich übe...






... und wenn was nicht klappt, übe ich das zu spielen ;)

Immer eine musikalische Einheit (Takt, Phrase, Strophe etc) nacheinander bis es klappt und im Muskelgedächtnis verankert ist.
Reproduzierendes wie Licks, Skalen, Songs versuche ich zu verinnerlichen und zu "vergessen", das Unterbewusstsein soll es dann richten.
Tonbildung übe ich so innig, bis das Glücksgefühl einsetzt. Und ich höre mir immer zu wenn ich spiele.
Meist funktioniert das.
Schöne Grüße, Rolli
www.daskulturgut.de - KulturGUT
www.rolandkalus.de - Gitarrencoaching
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Jürgen
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Re: Erfolg und Mißerfolg beim Üben

Beitrag von Jürgen »

Rolli hat geschrieben:
So Jul 10, 2022 4:15 pm
Ich spiele einfach nur, selbst wenn ich übe...






... und wenn was nicht klappt, übe ich das zu spielen ;)

Immer eine musikalische Einheit (Takt, Phrase, Strophe etc) nacheinander bis es klappt und im Muskelgedächtnis verankert ist.
Reproduzierendes wie Licks, Skalen, Songs versuche ich zu verinnerlichen und zu "vergessen", das Unterbewusstsein soll es dann richten.
Tonbildung übe ich so innig, bis das Glücksgefühl einsetzt. Und ich höre mir immer zu wenn ich spiele.
Meist funktioniert das.
Schön beschrieben. So halte ich es meist auch.
Gruß

Jürgen

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Klar ist doch auch, daß die Beschränkung auf eine einzige Gitarre auf eine extreme Notsituation, im Grunde auf den Zusammenbruch der Zivilisation hinweist. (RB)
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